Mittwoch, 27. Juli 2016

Ja, ich bin Lerncoach - ein Beispiel zu "Neues Lernen im dig. Umfeld"



"Lernbegleiter*in ist, wer Frontalunterricht mittels Arbeitsblättern erteilt (u gar nicht mehr wissen muss, was ersie da lehrt),"  twitterte Torsten Larbig (@herrlarbig), Lehrbeauftragter der TU Darmstadt, Anfang Mai. Er schloss seinen Tweet mit #provo. Jawohl, es war eine Provokation!  "Das kann er doch nicht ernst meinen", war meine spontane Reaktion. Ich selbst überschreibe meine Lehrerrolle gerne mit Begriffen wie Lernbegleiter bzw. Lerncoach, um z. B. mein verändertes "Lehrer-" Verständnis zum Ausdruck zu bringen. Zu der Zeit, als Torsten den Tweet veröffentlichte, steckte eine meiner Klassen mitten in einer Unterrichtseinheit, die genau dem entsprach, wie ich in Zukunft vermehrt arbeiten möchte: die Lerner arbeiten im digitalen Umfeld und ich begleite sie als Lerncoach. Torsten, bitte zähle, wie viele Arbeitsblätter in meiner Rückschau auftauchen!

(Fotoquelle: Timo am Plakat, eigenes Bild, alle Rechte vorbehalten)

Rahmen

Die Klasse besuchen insgesamt 25 Industriekaufleute im Rahmen der Dualen Ausbildung. Als Berufsschulklasse kommen sie an zwei Tagen zur Schule und lernen in drei Stunden pro Woche im Fach Geschäftsprozesse die notwendigen Kompetenzen, die sich speziell auf das Berufsbild der Industriekauffrau bzw. des Industriekaufmannes beziehen. Im betrachteten Zeitraum bearbeiteten wir das Lernfeld Marketing und beschäftigten uns mit den Möglichkeiten von Industriebetrieben, mit den potentiellen Kunden zu kommunizieren. Situativ habe ich die Unterrichtsreihe an das real existierende Unternehmen feuerwear.de angelehnt, mit dem ich bereits in anderen unterrichtlichen Kontexten gearbeitet hatte.


Aus medialer Perspektive besitzen alle Azubis der Klasse ein internetfähiges Smartphone. Über das schuleigene WLAN besteht ein relativ stabiler Zugang zum Netz, einige Schülerinnen und Schüler verzichten allerdings auf diese Möglichkeit und nutzen den privaten Traffic. Im reservierbaren Raum gegenüber stehen zudem 20 PCs nebst zentralem Drucker zur Verfügung.


Aufgabenstellung


Inhaltlich
Nachdem wir uns eine Zeit lang situativ sehr eng mit dem Unternehmen und der Werbeplanung beschäftigt haben, mussten nun noch die sogenannten "weiteren Kommunikationsinstrumente" erarbeitet werden. Entgegen dem berufspädagogisch aktuell geforderten Postulat eines situativ angelehnten Handlungsproduktes verabschiedete ich mich in diesem Fall ein wenig aus dem unternehmerischen Umfeld. Die Lernenden sollten zunächst arbeitsteilig die weiteren Instrumente erarbeiten und diese in einem zweiten Schritt auf die Unternehmung beziehen. Die Aufgabenstellung lautete wie folgt:

1.     Informieren Sie sich zu einer speziellen Kommunikationsmethode Ihrer Wahl. 
2.     Stellen Sie anhand eines realen Beispiels folgende Aspekte des Kommunikationsinstrumentes dar: 
a.     allgemeine Definition mit Quellenangabe 
b.    weitere interessante Merkmale oder Beschreibung 
c.     besondere Ziele des Instruments
d.     weitere reale Beispiele
3.     Machen Sie sich Gedanken darüber, wie dieses Instrument im Sinne der Werbemaßnahme für die Lightline-KollektionsKommunikationsKawummKanone eingesetzt werden könnte. (Falls Sie die Methode für ungeeignet halten, argumentieren Sie bitte schlüssig.)

Methodisch
Mein besonderer methodischer Schwerpunkt lag in der visuellen Aufbereitung der unter 2. erarbeiteten Inhalte. Diese sollten der Klasse für einen individuellen Museumsgang zur Verfügung gestellt werden. Hierfür konnten die Schülerinnen und Schüler die Informationen auf den Plakaten durch weitere Quellen und Infos im Internet anreichern, die über QR-Codes erschlossen werden sollten. Ziel war es, dem Betrachter ein umfassendes Bild über das kommunikationspolitische Instrument zu bieten und ggf. vertiefendes Material zur Verfügung zu stellen. Gleichzeitig sollten die Klasse auch selbst QR-Codes generieren und als Schnittstelle zwischen realer und virtueller Welt kennenlernen. Damit sich die Lernenden auch tatsächlich damit befassen, habe ich die Aufgabenstellung überschrieben mit "Anforderungen an das Plakat" ungewöhnlich eng formuliert:

Die Darstellung Ihres Themas soll für einen „Museumsgang“ geeignet sein. Das bedeutet, dass sich der Betrachter die Inhalte auch ohne eine weitere Person erschließen kann. Damit dies funktioniert, bitte ich Sie, dass Sie das Plakat (Ihre Ausstellungsfläche) mit mindestens folgenden Elementen anreichern. 
  • Eine Erklärung des Themas, die Sie über die Tool vocaroo.com oder speakpipe.com online aufnehmen und dann auf dem Plakat zur Verfügung stellen.
  • Ein Internetvideo mit zusätzlicher Erklärung, einem Beispiel, etwas Witzigem, weiteren Informationen, oder .... oder ...
  • Mindestens zwei Verweisen zu weiteren interessanten Seiten im Netz, auf denen man noch mehr über das Thema erfahren kann.
  • Ich empfehle die Seite www.kurzelinks.de, um die Links auf ein erträgliches Maß zu kürzen, einen Wunschnamen zu vergeben und/oder einen QR-Code auszugeben.
Die Aufgabenstellungen stelle ich der Klasse auf einem Arbeitsblatt zur Verfügung.

Ablauf

Recherche

Nachdem sich die Teams bestehend aus drei bis vier Personen für ein Thema entschieden hatten, begann zunächst die übliche Buch- und Internetrecherche. Die vollzog sich (je nach Geschwindigkeit) über das Handy oder den PC. Anschließend extrahierte die Gruppe Relevantes und Interessantes bevor es an die visuelle Umsetzung ging.

Aufbereitung

Für die Plakatgestaltung spezialisierten sich die Gruppen weiter: einige kümmerten sich um die Sprachaufnahme, andere um die grafische Gestaltung des Plakates und ein Teil wiederum um die Netzquellen sowie QR-Codes.

Museumsgang

Die erstellten, fertigen Plakate präsentierten wir auf Stellwänden im Flurbereich vor der Klasse. Auch andere Schülerinnen und Schüler der Schule hatten so die Möglichkeit, sich über die Themen zu informieren. Während des individuellen Museumsganges hatten die Azubis drei Beobachtungsschwerpunkte/ Aufgaben:

  • Im Vordergrund stand die inhaltliche Beschäftigung mit den Themen über das Lesen, Hören und Sehen der Informationen mit dem Smartphone und einem Kopfhörer
  • Weiterhin konnten die Lerner dem Autorenteam auf einer "gut-gelaufen-verbesserungswürdig-Liste", das direkt am Plakat angebracht war, eine kurze schriftliche Rückmeldung geben
  • Für eine Reflexion im Nachgang sollten die Schüler vier Fragen auf dem Formblatt zur Quizstunde kreieren. Das Formblatt dazu war auf einem weiteren Arbeitsblatt kopiert.
       




    Reflexion 1

    In einer ersten fachlichen Reflexion spielten wir gemeinsam im Klassenplenum eine Quizstunde (auf Wunsch: Mädchen gegen Jungs ;-) ). Dazu wählte ich die von den Lernenden selbst erdachten Aufgaben, die ich vorbereitend in der einfachen App von KIDS interactive einscannte.


    Reflexion 2

    In der zweiten inhaltlich orientierten Reflexion überprüfte ich den Wissenszuwachs über einen kleinen Multiple-Choice-Quiz, für deren schnelle Auswertung ich die App quickkey.com nutzte. Die Fragen verteilte ich auf einem Arbeitsblatt.




    Reflexion 3

    Gemeinsam sprachen wir über die Unterrichtseinheit, die die Klasse nun über drei Wochen (9 Stunden) beanspruchte. Dabei wurden folgende Probleme deutlich:

    • Einige Plakate waren durch QR-Codes dominiert. Erläuternde Texte oder Stichworte fehlten völlig. "Nur der Erklärung zuzuhören ist zu wenig!" Im Gespräch stellte sich heraus, dass nicht allen Lernenden klar war, dass es sich um "kombinierte" Plakate handeln sollte.
    • Die zweite Anmerkung war offensichtlich geprägt durch die kaufm. Ausbildung, die oft auf Kosten-Nutzen-Relation abhebt. "Der Aufwand ist im Verhältnis zum Nutzen zu groß."
    • Einige forderten den Museumsgang mit der gesamten Klasse. Dies allerdings widerspräche meiner Intention eines individualisierten Lernprozesses.
    • Technische Probleme stellten sich natürlich auch ein. Einige Handy-Betriebssysteme hatten Schwierigkeiten, auf die Audiodateien bei vocaroo.com zuzugreifen. Bei einem Plakat wurden die QR-Codes so ausgeschnitten, dass sie von den Readern nicht mehr gelesen werden konnten.
    • Sehr erfreulich aus Lerncoachperspektive war die Feststellung, dass die Teams das eigene Thema sehr, sehr intensiv durchdrungen hatten. Jeder fühlte sich auf seinem Gebiet als Experte.
    Lernbegleiter

    Ich nehme jetzt Bezug zur Eingangsthese von Torsten Larbig und führe kurz aus, in welcher Funktion ich die Unterrichtseinheit erlebt habe. Nach dem Anstoßen der Aufgabe und den evtl. zu kurzen Ausführungen dazu habe ich mich zurückgezogen. Für die Fragen der Lerner stand ich während des gesamten Prozesses zur Verfügung und habe mehrfach technische, inhaltliche und grafische Anregungen gegeben. Die Informationssammlung und -aufbereitung für die Situation war dann aber die Herausforderungen für die Klasse und nicht für mich. Auch der Museumsgang selbst lief abgesehen von der Organisation von Raum, Zeit und Stellwänden komplett ohne mich. Lediglich die drei Reflexionseinheiten forderten mich als Lehrer wieder mehr. Frontalunterricht war es dennoch nicht. Ich habe die Quizstunde am Lehrer-PC gesteuert und die Fragen für den Test vorbereitet - das war´s. Die Reflexion 3 schließlich bestand aus einem Unterrichtsgespräch.

    Ist dafür ein Lehrer notwendig? JA!
    Muss ich wissen, was ich lehre? JA!

    Wie sonst könnte ich Inhaltliches, Methodisches und Situatives miteinander verknüpfen? Wie sonst könnte ich den Schülerinnen und Schülern inhaltliche Fragen beantworten und bei der Informationsselektion hilfreiche Hinweise geben? Wie sonst könnte ich die Arbeit der Lerngruppen inhaltlich bewerten (Vollständigkeit, Qualität, Quellenrelevanz)? Woher sonst hätte ich das Know-how für den Einsatz reflektierender Methoden? Wie sonst könnte ich Fragen  für eine schriftliche Überprüfung zusammenstellen? 

    Ich glaube, dass die These genau umgekehrt gilt. Bei Frontalunterricht kann mein Wissen (auf 45 Minuten) beschränkt sein. Es genügt, wenn ich die berühmten fünf Seiten im Buch weiter bin als meine Lerngruppe. Denn hier hat der Lehrer den Unterricht inhaltlich fest im Griff. Vielleicht ist es sogar einfacher, frontal zu unterrichten. Die Herausforderung allerdings besteht darin, den Spannungsbogen und die Begeisterung für 45 Minuten Dauerberieselung aufrecht zu erhalten. 

    Ich bin und bleibe Lernbegleiter und erteile keinen Frontalunterricht mittels Arbeitsblättern (und ich weiß genau, was ich lehre). #provo




    (Fotoquellen: eigene Bilder, alle Bilder sind ausdrücklich von der CC-Lizenz ausgenommen)








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