Superman-Syndrom: Ich muss alle retten (Lehrer-Lügen 3)

von Basti  

August 13, 2017

Auch wenn landläufig oft ein schlechtes Bild über die Beweggründe von Lehrern herrscht, so habe ich trotzdem noch keinen kennengelernt, der nicht das Beste für seine Schüler gewollt hätte. Mag sein, dass ich nicht genau genug nachgesehen habe, doch der „Ich hasse alle Schüler“-Lehrer ist mir noch nicht begegnet. Viel häufiger trifft man dagegen den Typ Lehrer, der sich so sehr seinen Schülern verschrieben hat, dass er dabei sich selbst vergisst. Und das kann zu viel werden. In diesem Artikel werde ich auf die positiven und negativen Aspekte des „Superman-Syndroms“ eingehen.

Zur Erinnerung:

Lüge 1: Je weniger Arbeit, desto schlechter der Lehrer

Lüge 2: Das System ist schuld

Das Superman-Syndrom

Mit dem Begriff Superman-Syndrom meine ich die Vorstellung, als Lehrer alle Schüler retten zu wollen. Gerade wer eine sehr soziale Ader hat und sich besonders zum Lehrer berufen fühlt, baut eine tiefe Beziehung zu seinen Schülern auf. Es ist dann nur natürlich und auch positiv, aus jedem das Beste herausholen zu wollen und jeden ideal auf seinem Weg zu unterstützen.

Das beginnt bei der individuellen Unterrichtsplanung, geht weiter über Schüler- und Elterngespräche oder Förderpläne, bis hin zur psychologischen Betreuung oder Kontakt mit dem Jugendamt.

Den Schülern gerecht zu werden, sollte zweifelsohne höchste Priorität im Lehrerberuf haben. Deswegen sind wir Lehrer geworden, nicht um uns bei Büroaufgaben zu verkünsteln. Eines ist aber auch klar: dieses Engagement kostet unwahrscheinlich viel Zeit. Zudem kann sich viel Frust aufbauen, wenn die Bemühungen im Sand verlaufen oder sogar boykottiert werden.

Positive Aspekte des Superman-Syndroms

Wie gesagt, ist zunächst nichts Verwerfliches an dem Gedanken, alle retten zu wollen. Es ist der wichtigste Teil unseres Berufes, für die Schüler zu arbeiten und ihre Ausgangschancen im Leben zu erhöhen. Es gibt drei entscheidende Gründe, die den großen Einsatz für Schüler und Schule rechtfertigen.

1. Schülern inhaltlich gerecht werden

„Ich muss alle retten“ bezieht sich zunächst erst einmal auf inhaltliche Aspekte des Unterrichts. Da nicht jeder Schüler die gleichen Voraussetzungen mitbringt, ist man versucht, die Unterrichtsinhalte möglichst individuell darzubieten. Dabei liegt es natürlich im Bewertungsspielraum der Lehrkraft, zu entscheiden, welches Maß an individueller Planung sinnvoll ist.

Die Meinungen hierzu gehen oft stark auseinander. Schnell läuft man Gefahr, sehr perfektionistisch zu werden und sich in kleinen, unwichtigen Aufgaben zu verlieren. Es ist nicht leicht, festzustellen, welches Maß an Differenzierung und Individualisierung nötig und vertretbar ist, um dem Schüler gerecht zu werden.

2. Erzieherisch einwirken

Zu erzieherischen Maßnahmen gehören auch Einzelgespräche mit dem Schüler oder mehreren Schülern, sowie Elternarbeit. Hierbei ist zusätzlicher Aufwand durchaus erfolgsversprechend. Die Schüler-Lehrer-Bindung wird verstärkt und gerade so kann die Lehrkraft wertstiftend und richtungsweisend auf das Kind einwirken. Im Gespräch mit Erziehungsberechtigten werden gemeinsame Richtlinien besprochen und festgelegt. Daneben wird beraten, analysiert, prognostiziert, usw… Ich erzähle dir da nichts Neues.

Es ist wohl unumstritten, dass diese Maßnahmen meist wirkungsvoller für das weitere Leben des Schülers sind, als viele Bestandteile des Unterrichts. Oft heißt es daher auch: zunächst Konflikte lösen, dann unterrichten. Wir haben einen Erziehungsauftrag. Für diesen Zeit aufzuwenden, ist nötig und sinnvoll für besseres Klassenklima und die Zukunft der Schüler.

3. Betreuung sozialer Fälle

Je nach Schulart hat jede Lehrkraft auch mit einer unterschiedlichen Anzahl an Erziehungsfragen zu tun, die über Konflikte im Klassenverband hinausgehen. Seien es Probleme mit Gewalt, Drogen oder Mobbing, man ist nie vor Überraschungen sicher. Diese Fälle brauchen unsere Engagement.

So kommt man manchmal um das Einschalten von Jugendämtern oder Polizei nicht herum. Die Zusammenarbeit mit Sozialarbeitern oder Schulpsychologen kann vielleicht mühselig sein, ist aber oft unumgänglich und sinnvoll. Für das Kindeswohl muss gesorgt sein. Diese Arbeit ist notwendig und für das Kind oder den Jugendlichen sehr wichtig. Engagement in diesem Bereich wirkt sich (hoffentlich) positiv auf den Schüler aus.

Wann es zu viel wird

Es sollte jetzt klar sein, dass ich auf keinen Fall von Engagement abrate. Im Gegenteil ist ein involvierter und Anteil nehmender Lehrer Grundvoraussetzung für eine funktionierende Schule. Ein Zurücklehnen und geschehen lassen ist im Grundsatz falsch. Doch es gibt auch Schattenseiten.

Innere Anspannung durch fehlende Pausen

Viel Engagement bedeutet auch viel Arbeit und damit wenig Zeit für manch anderes. Das erste, was auf der Strecke bleibt, ist die Zeit für Pausen. Damit meine ich nicht nur die kleine Pause in der Schule. Vielmehr spreche ich von einer generellen Rastlosigkeit, die sich durch zu große Belastungen entwickelt.

Das Gefühl, niemals fertig zu sein, habe ich schon mit einigen Kollegen besprochen. Je größer das Engagement, desto größer ist auch der Eindruck, noch etwas erledigen zu müssen. Dieser Gedanke nagt an einem. Sei es das Bedürfnis, noch weiter am Unterricht zu feilen oder das morgige Elterngespräch, das schon im Kopf durchgegangen wird: Es gibt viele Bilder, die sich im Kopf eines Lehrers festsetzen können.

Nicht selten berichten Lehrer über Schlafmangel wegen zu langer Planungen oder Einschlafproblemen aufgrund zu vieler Gedanken. Dies ist ein erstes Zeichen, dass man mehr auf sich selbst achten sollte. Andauernde innere Anspannung aufgrund fehlender Pausen für Körper und Geist ist ein erster Schritt in Richtung Burnout.

Überarbeitung

Als zusätzliche Folge eines zu großen Engagements kommt dann auch die Überarbeitung dazu. Klar, je mehr Aufgaben, desto mehr Arbeit. Nicht jeder ist in der Lage, das große Arbeitspensum so ohne weiteres auszuhalten.

Wenn sich ein ständig wachsender Stapel an Aufgaben einstellt, ist es an der Zeit, die Notbremse zu betätigen. Es kann nicht Sinn und Zweck sein, die Schüler zu retten, indem man sich selbst völlig aufgibt und in Arbeit erstickt. Wer keinen Ausweg mehr aus seinen To Dos erkennen kann, muss sich eingestehen, dass er sich selbst zu viel zumutet. Ein Mangel an Freizeit und Pausen wirkt sich fatal auf die körperliche und geistige Gesundheit aus.

Beeinträchtigung des eigenen Soziallebens

Und nicht nur die eigene Verfassung leidet unter zu hohem Engagement. Auch Familie und Freunde können mit in dieses System aus wachsender Arbeit hineingezogen werden. Wer feststellt, aufgrund seines schulischen Aufgabenbereichs das eigene Sozialleben zu vernachlässigen, macht etwas falsch.

Schließlich versuchen wir, unseren Schülern durch unsere Arbeit ein gutes Leben mit Familie und Freunden zu ermöglichen. Welchen Sinn macht es also, sich wegen dieser Aufgabe das eigene Sozialleben zu zerstören? Wer feststellt, dazu zu neigen, sein Privatleben zunehmend zurückschrauben zu müssen, muss etwas ändern.

Frustration wegen wiederholter Rückschläge

Man startet mit hohen Erwartungen und idealistischer Weltanschauung in den Lehrerberuf. Umso schlimmer ist es daher, wenn die eigenen Erwartungen enttäuscht werden. Nur zu oft muss man feststellen, dass die geleisteten Anstrengungen nicht fruchten oder nicht ausreichend gewürdigt werden.

Schüler erreichen nicht die gewünschten Lernerfolge. Eltern missverstehen die gewählten erzieherischen Maßnahmen. In manchen Fällen ist man auch einfach nur machtlos und kann tun und lassen, was man will, ohne Erfolge zu erzielen.

Hier ist es besonders wichtig, sich selbst vor Frustration zu beschützen. Es ist eigentlich recht traurig, einen von den vielen Jahren der Misserfolge enttäuschten und desillusionierten Lehrer zu treffen. Daher ist man gut beraten, sich bereits früh mit den eigenen Ansprüchen auseinander zu setzen. Frust und Wut führen langfristig dazu, das man den einst freudig begonnenen Beruf zu hassen lernt. So etwas sollte mit großer Anstrengung vermieden werden.

Was man gegen die Überbelastung tun kann

Überbelastung durch zu hohes Engagement sollte nach Möglichkeit vermieden werden. Dies ist jedoch nicht einfach. Auch ich habe dafür natürlich kein Allheilmittel. Aber ich kann ein paar Denkansätze und Empfehlungen abgeben.

Setze Prioritäten

Ein Problem des Superman-Syndroms ist, dass man in sämtlichen Bereichen des Schulalltags gleich gut abliefern möchte. Dabei wird sehr schnell vergessen, auf sich selbst zu achten. Gerade in Zeiten hoher Zusatzbelastungen, durch einen zeitweisen Anstieg von Problemen in der Klasse oder sozialen Problemen eines Schülers, häufen sich die Zeitmanagement-Probleme der Lehrer.

Es ist daher wichtig, Prioritäten zu setzen und sich damit abzufinden, dass nicht alle Bereiche zu jederzeit vollständig abgedeckt werden können. Es ist zeitweise einfach nicht möglich, hochdifferenzierten Unterricht, gute Schüler- und Elternarbeit und dann auch noch Gespräche mit Polizei oder Jugendamt gleichzeitig zu führen. Daher müssen eben in manchen Bereichen Abstriche gemacht werden.

Für meinen Teil werde ich immer wie folgt priorisieren:

  1. Betreuung sozialer Härtefälle
  2. Konflikte in der Klasse zufriedenstellend beheben
  3. Unterricht
  4. Bürokratie und Schreibkram

Akzeptanz für die eigene Fehlbarkeit

Prioritäten zu setzen ist nicht unbedingt einfach. Vermutlich muss ein Punkt im Leben eines Lehrers kommen, an dem er sich von seinem Superman-Dasein verabschiedet. Ich denke, dass es einige Überwindung kosten kann, sich einzugestehen, dass man eben nicht auf allen Hochzeiten gleichzeitig tanzen kann.

Es ist daher wichtig, zu akzeptieren, dass man selbst nur ein Mensch ist und über begrenzte Leistungsfähigkeit verfügt. Man kann nur bis zu einem bestimmte Punkt leisten, ohne sich selbst dabei zu vergessen. Die Achtsamkeit für die eigenen Bedürfnisse darf nicht verloren gehen.

Akzeptanz für das Unveränderliche

Zudem muss man sich irgendwann klar machen, dass nicht alle Probleme gelöst werden können. Wir haben nur einen begrenzten Zugang zu unseren Schülern. Daher sind wir nicht in der Lage, alle Konflikte zu lösen, alle sozialen Härtefälle zu entspannen. Nein, es können nicht alle gerettet werden. Das klingt hart, ist aber in meinen Augen leider eine unveränderliche Wahrheit.

Ein Schüler, der bereits im Elternhaus beigebracht bekommt, seine Probleme mit Gewalt zu lösen, wird unter Umständen niemals das Verständnis für die Regeln der Gesellschaft akzeptieren. Das intensive Auseinandersetzen mit diesem Schüler kann klappen, kann aber auch scheitern. Irgendwann muss eine Entscheidung getroffen werden: Kann ich noch mehr erreichen? Gebe ich mich damit zufrieden, dass dieser Schüler keinen Schaden anrichtet, oder möchte ich ihn zum perfekten Bürger umrüsten? Akzeptiere ich meinen Erfolg, wenn der Schüler die wichtigsten Regeln einhält, oder möchte ich ihn zum braven Lamm erziehen?

Ein zugegebenermaßen erfundenes und recht konstruiertes Beispiel. Vielleicht wird meine Botschaft trotzdem klar. Der Engländer sagt: Pick your battles. Wähle deine Schlachten weise aus. Konzentriere dich auf die Dinge, die du verändern kannst. Es muss bei jedem Problem der Zeitpunkt kommen, an dem du dir klar machst, ob sich weiterer Einsatz lohnt oder ob du dadurch den Erfolg in anderen Bereichen nachhaltig verhinderst.

Veränderung der Denkweise

Überlege dir gut, ob du mit deinem Anspruch „Ich muss alle retten“ wirklich immer zum Vorteil handelst. Ein anderer, realistischerer Glaubenssatz könnte die negativen Auswirkungen eines zu großen Engagements vielleicht einschränken.

„Ich erledige meine Aufgaben so gut ich kann, solange es mir dabei gut geht.“ Dies wäre ein Beispiel für einen Grundsatz, der einen gesunden Kompromiss aus Einsatz für die Schüler und Rücksicht auf das eigene Leben darstellt. Finde deinen eigenen Kompromiss.

Fazit

Hoher Einsatz für die Schüler ist niemals etwas durchgehend Schlechtes. Fatal wird dieses Engagement nur dann, wenn man die Rücksicht auf die eigenen Person dabei vergisst. Überarbeitung, Erschöpfung und Frust können als Folge des Superman-Syndroms auftreten.

Es ist wichtig, niemals sich selbst und die eigene Gesundheit aus den Augen zu verlieren. Oft gehört dabei einfach dazu, zu akzeptieren, dass man nicht alle Probleme lösen kann. Sich selbst diesen Freiraum einzuräumen, ist ein schwieriger Prozess, der viel Arbeit benötigt. In manchen Fällen ist er dennoch nötig.

Schlusswort

Ich kann diesmal nicht mehr sagen, als dass ich mich auf deinen Kommentar freue. Zudem bin ich gespannt, ob du zu diesem Thema auch so stehst wie ich, oder ganz anderer Meinung bist. Lass uns diskutieren!

Bis zum nächsten mal.

Und vergiss nicht: Auch Lehrer haben ein Recht auf Zeit.

Basti


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