Die Eisenbahn-schiene

Vor vielen Jahren gab es in einem fernen Land einen Ort, in dem die Menschen sich nur zu Fuss bewegten oder, im besten Falle, zu Pferd. Ihr Leben spielte sich in einer engen Umgebung ab und keiner hatte sich je weit von zu Hause entfernt.

Eines Tages beschloss ein aufgeweckter junger Mann eine Reise zu unternehmen und all die weiten und unbekannten Orte zu besuchen. Nach seiner Rückkehr bezauberte der Abenteurer seine Freunde Abend für Abend mit einzigartigen Geschichten und Beschreibungen von unglaublichen Dingen. Doch was seine Zuhörer am meisten beeindruckte, war seine Erzählung von einem Medium, mit dem es möglich sei, sich in grossen Gruppen schnell und ohne grosse Mühe zu bewegen: die Eisenbahn . . .

Alle Bewohner waren begeistert und wünschten sich sehnlichst dieses neue und wunderbare Transportmittel. Sie bemühten sich so eifrig darum, dass der Bürgermeister sich gezwungen sah, bei der Eisenbahngesellschaft eine formelle Anfrage nach einem Zug zu stellen.

Und so geschah es eines Tages, dass auf einem grossen Fuhrwerk, gezogen von einer gewaltigen Pferdeschar, auf dem Dorfplatz des Ortes eine schwarze, glänzende Lokomotive ankam. Sie war geschmückt mit bunten Bändern und wurde unter dem Jubel der Bewohner mit grosser Feierlichkeit vom Wagen hinabgeladen. Man feierte ein Fest, das bis tief in die Nacht dauerte.

Doch genauso, wie eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, machte die Lokomotive noch keine Eisenbahn.

Und wirklich, in den kommenden Tagen, wurden mit dem grossen Fuhrwerk ein, zwei, fünf, zehn … mehr als fünfzig Waggons ins Dorf gebracht. Der ganze Platz war inzwischen damit gefüllt.

Die Bewohner waren sehr froh, doch tief in ihrem Innersten spürten sie, dass irgendetwas so nicht gehen konnte. Bereits fragten sich die Ersten heimlich, wo denn wohl der Haken liege.

Die Erklärung kam wie immer vom aufgeweckten Jüngling: Damit viele gemeinsam, schnell und ohne Mühe reisen können, genügt die Eisenbahn für sich nicht, es braucht auch ein Geleise, Schienen, auf denen der Zug fahren kann.

Aha! Jetzt hatten sie es verstanden!. Das Problem wäre nun gelöst: Es genügt, dass wir Geleise legen.

Aber … der Besitzer der Sägerei wollte Schienen, die in die Berge führten, die Kinder und die Älteren im Dorf wollten eine Strecke zum Meer, den Jugendlichen war es wichtig, dass sie auf der Bahnlinie das Tanzlokal erreichen konnten. Alle schrien durcheinander, um ihre Meinung durchzusetzen und der Lärm erinnerte an einen Jahrmarkt.

Nach mehreren Tagen der lauten Diskussionen, machte es ganz den Anschein, als ob der Zug auf dem Dorfplatz alt und grau werden sollte. Da nahmen die Mütter die Sache in die Hand, sie versammelten sich um den runden Tisch und versuchten gemeinsam, herauszufinden, welches wohl die beste Richtung für eine Eisenbahnlinie sein könnte, damit zumindest die Mehrheit der Bevölkerung zufrieden war.

Sie fanden eine Lösung, die ebenso einfach wie genial war. Ihr Vorschlag wurde dem Bürgermeister überbracht.

Dank der Frauen in diesem Ort können nun alle mit der Eisenbahn bis zum Nachbarort fahren und von da aus die Berge erreichen, das Meer und, wer will, auch das Tanzlokal.

Quelle: Francesco Callegari, Diapason 2.0